Keinen Bock (mehr auf mich)
Fritz zieht aus. Fritz, unser Kleiner. Er ist 19 und 1,97m. Seine drei Geschwister sind schon ausgezogen. Wir Eltern haben das alles minutiös geplant. Fritz ist perfekt gebrieft. Er will das auch, sagt er, wenn man ihn fragt, und die Augen flackern etwas ängstlich. Er ist jung, sehr jung. Aber es ist ein Platz frei geworden in der Einrichtung unserer Träume. In Darmstadt. Wenn wir jetzt zögern, wird es auf absehbare Zeit keinen freien Platz mehr geben. Er hätte schon im Sommer umziehen sollen. Fritz hatte gerade die Schule beendet. Es wäre ein fließender Übergang gewesen. Aber in Darmstadt war etwas dazwischen gekommen und Fritz war in sein Berufbildungsjahr gestartet. In Hattersheim. Er mochte die Werkstatt, hatte dort schon ein Praktikum gemacht und war gerade dabei sich einzuleben. Die Fahrten von Frankfurt nach Hattersheim mit Straßen- uns S- Bahn waren für ihn bereits Routine. Fritz hatte früh gelernt, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Das gibt ihm eine gewisse Unabhängigkeit. Man muss die Strecken mit ihm üben, aber wenn er die Strecke ‚drauf’ hat, kann er sicher von A nach B kommen.
Kurz vor Weihnachten kam die Nachricht, dass der Platz in Darmstadt nun doch frei würde. Mitte Februar sollte Fritz einziehen. Also, von zu Hause ausziehen, in die Wohngruppe einziehen, die Berufsbildung Hattersheim aufgeben, in der Berufsbildung Darmstadt anfangen und in der Werkstatt für Behinderte ein Praktikum beginnen. Viel Neues für unseren Fritz. Fritz tut sich nicht leicht mit Veränderungen. In der Wohngruppe, in die er ziehen sollte, kannten sich die Bewohner schon seit dem Kindergarten. Die Eltern hatten dieses Wohnprojekt in einer lang andauernden, zähen Kraftanstrengung gegen alle Widerstände auf den Weg gebracht. Eine aufsehenerregende Leistung. Die Eltern waren eine fest zusammengeschweißte Kampfeinheit. Alle Bewohner waren älter als Fritz. Würden wir ihn - und uns - komplett überfordern? Fritz hatte schon zwei Mal ein einwöchiges Probewohnen absolviert. Das erste Mal mit 17. Da war er so unglücklich, dass die Woche nur fünf Tage hatte. Das zweite Mal, ein Jahr später, war es auch nicht viel besser. Aber Fritz behauptete trotzdem, er wolle ausziehen wie seine großen Geschwister, wie sein Bruder, der in K. studierte. Sein knapp zwei Jahre älterer Bruder, sein großes Vorbild, sein cooler Bruder, der ihm alles sagen konnte. Der nah an ihm dran war, und ziemlich genau wusste, wie der Fritz tickt. Ich glaube er wollte es wirklich. Es war nicht nur elterliche Projektion. Er wollte es. Aber er hatte keine Ahnung, worauf er sich einließ. Es wurde zur Zerreißprobe für uns alle.
Wir bereiten alles generalstabsmäßig vor. Der unvermeidliche Gang zum schwedischen Möbelhaus. Der große Kleiderschrank mit dem unmöglichen Namen. Der Einzug. Der Aufbau des riesigen Kleiderschrankes mit dem unmöglichen Namen. Es gibt noch Streit. Fritz cooler Bruder findet, dass Fritz viel bessere Sachen bekommt, als er jemals besessen hätte. Das wäre ungerecht. Jetzt auch noch das, denken wir. Beschwichtigen. Die Gemüter beruhigen sich. Alles wird gut, sagen wir uns, während wir mit den Tränen kämpfen und einen Fritz zurücklassen, dem die Panik ins Gesicht geschrieben steht. Wir fahren, und die Katastrophe beginnt. Es wird ein langes, beklemmendes, aufwühlendes Jahr werden. Ein immer währender Kampf zwischen ‚wir müssen fest bleiben’ und ‚das können wir unserem Kind nicht antun’. Alle sind supernett zu Fritz. In der Berufsbildung, bei der Arbeit, in der Wohngruppe. Alle lieben ihn. Aber Fritz ist vollkommen überfordert mit der Situation. Dass alle sich schon kennen in der Wohngruppe, dass er der Jüngste ist. Die neue Arbeit. Neu, neu, neu. Alles ist neu! Und seine Mama ist nicht da! Und sein Papa ist nicht da! Da kann man vorher noch so cool sein. Früher hat er sie gar nicht so viel gesehen, seine Mama und seinen Papa, in der Schulzeit. Morgens um sieben wurde er mit dem Bus abgeholt und um sieben abends kam er zurück von Schule und Hort. Noch kurz Abendessen und um acht fiel er komatös ins Bett und wir hatten einen freien Abend. Morgens ein halbes Stündchen, abends eine Stunde, das war’s auch schon. Und das Wochenende. Das reichte völlig. Den ganzen Tag war er mit seinen Freunden in Schule und Hort unterwegs. Aber jetzt fehlt es. Die Sicherheit, dass alles wie immer ist. Unerträgliches Heimweh. Wenn er bei uns ist, am Wochenende, will er nicht mehr zurück. Er weint bitterlich. Wir versuchen fest zu bleiben, aber es zerreißt einem jedes Mal das Herz. Wir fahren ihn wieder zurück. Ich glaube, ich könnte die Strecke Frankfurt - Darmstadt mit verbundenen Augen fahren, so oft haben wir ihn besucht, abgeholt, wieder gebracht.
Wie lange halten wir durch? Wir streiten uns. Ich sage, wir können ihm nicht alles durchgehen lassen. Er ist zu weich. Was Väter so sagen, wenn sie nicht weiter wissen. Fritz gibt sich Mühe, er arbeitet als Bäcker in der Werkstatt, er versucht zu verstehen, wie das alles funktioniert, wie das alles zusammenhängt. Aber er versteht nicht, warum seine Mama und sein Papa ihn nicht mehr haben wollen. Ihn immer wieder zurückbringen. Die Betreuer versuchen Fritz Schmerz zu lindern und immer wieder schaffen sie es. Sie machen einen wunderbaren Job. Aber es lässt auch sie nicht kalt. Fritz versucht sich zu trösten. Fritz hat ein Handy. Er kann gut damit umgehen. Er ist gut vernetzt. Nie hören seine Geschwister, Onkel, Tanten, Großeltern so viel von ihm wie in diesen schweren Zeiten. Über Bande bekommen wir mit, was er uns nicht sagt. Ob wir wollen oder nicht. Und so erfahren wir, dass unser ältester Sohn, der im Ausland wohnt, mit einem Betreuer gesprochen hat. Fritz hätte ihn angerufen. Und Fritz hätte ihm gesagt: „Meine Eltern haben keinen Bock mehr auf mich.“ Was das zu bedeuten habe? „Meine Eltern haben keinen Bock mehr auf mich!“ Das ist der Schlag, der auch dem zähesten Boxer sagt: jetzt wirst du dem Boden sehr nahe kommen. Als ich das höre, weiß ich nicht, wo mein Herz hingerutscht ist, und ob es da, wo es gerade ist, noch schlägt. Ich denke: das war’s. Wir haben alles versucht. Wir holen ihn zurück. Das stehen wir nicht durch. Fritz nicht, wir nicht. Und dann geschieht das Wunder! Fritz hat eine Freundin. Ein Mädchen aus seiner Wohngruppe hat ihn unter seine Fittiche genommen. Sie nimmt ihn an die Hand und zeigt ihm, wo es hell wird. Und der Himmel wird blau. Dann sind Sommerferien. Wir fahren zusammen an die Nordsee. Lassen alles hinter uns. Nach den Ferien noch einmal ein Weinkrampf. Wir trösten ihn. Fahren ihn nach Darmstadt. Und dann ist er durch.
Fritz ist immer noch sehr angebunden. Er kommt jedes Wochenende zu Besuch. Aber sein Lebensmittelpunkt ist jetzt dort. Anfangs sind wir noch etwas benommen, trauen dem Frieden nicht ganz und denken: Noch so ein Jahr, und wir sind reif für das Seniorenstift. Noch so ein Jahr! Keinen Bock!
Dieser Eintrag wurde erstellt von: R.Paulus