Großwerden
Ach, waren das noch schöne Zeiten, als wir uns mit Freunden und Klassenkameraden zum Spielen verabredet haben. Hund und Kaufladen, Arzt und sonstige Rollenspiele. Ausflüge waren besonders schön. Auf dem Bonameser Flugplatz haben wir uns oft getroffen. Jeder brachte etwas zum Rollen mit. Auf der Eisbahn haben wir uns verabredet. Jeder konnte Runden drehen in seinem Tempo. So viel Spaß hatten wir.
Wir waren eine Gemeinschaft, auch wenn unsere Kinder mit Behinderung alle individualistische Züge an den Tag legen. Wir gestalten dann die Veranstaltung so, dass alle nebeneinander her etwas tun können.
Heute sieht das anders aus. Junge Erwachsene sind unsere Kinder nun. Verabredungen sind nicht mehr so einfach oder gar nicht mehr gewollt. Aus den "Kleinen" sind junge Menschen geworden mit ganz eigenen Vorstellungen. Ausziehen und Heiraten. Auto fahren und Babys kriegen. Das sind heute unsere Themen, denn als Eltern sind wir nah dran - und werden es noch lange bleiben. Die Sorgen und Nöte um unsere Kinder beschäftigen uns ein Leben lang.
Heute stecke ich in dem Dilemma, was traue meiner Tochter zu. Motorisch ist sie knapp unter einem Jahr. Laufen fällt ihr schwer und geht nur mit Hilfe. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen. Geistig ist sie vielleicht vier Jahre. Sie liebt rosa und alles, was mit Lilifee zu tun hat. Emotional ist sie etwa dreizehn. Ein Teenager, der mittendrin in hormonellen Ausbrüchen, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, steckt. Der alles will und plötzlich nichts. Ein Mensch, der dermaßen ICH-bezogen ist, aber auch genauso fantastisch genau im jetzt lebt. Im Hier und Jetzt. Das ist alles, was zählt. Ein Mensch, der unglaublich ehrlich und deutlich seine Emotionen zeigt. Nicht gestört durch die Angepasstheit an irgendeine gesellschaftliche Vorgabe. Körperlich gesehen ist sie bestimmt so um die 18. Alle weiblichen Geschlechtsmerkmale sind voll ausgebildet. Das macht das Leben nicht einfacher. Der Wunsch, mit dem Freund zu kuscheln und ihm nahe zu sein, schwebt über allem. "Ich kann ohne meinen Freund nicht leben!", ist der vielfach wiederholte Satz, wenn Krankheit oder Urlaub des Freundes anstehen. Die Welt bricht dann zusammen. Die Pause in der Werkstatt mit jemand anderem verbringen, das geht leider ohne Hilfe und Unterstützung von außen nicht wirklich gut. Zu eingefahren sind da die Gedanken. Zu autistisch das Verhalten, das an den Tag gelegt wird. Kalendarisch ist meine Tochter 20. Und hier steckt das Dilemma. Wie kann jemand, der also zwischen eins und einundzwanzig Jahre alt ist, alleine über sich entscheiden? Wie kann er selbst bestimmt leben und wissen, was ihm gut tut? Klar, sie kann sich gut äußern, aber ist es auch das, was ich als Außenstehende glauben darf und soll? Ist es der Moment, zählt oder doch die ganze Wahrheit? Wie kann ich einschätzen, wie es ihr geht, wenn sie die ganze Zeit weint, die Betreuer aber sagen, alles ist gut?
Ich versuche auf das Bauchgefühl der Mutter zu hören. Das ist ja bekanntlich immer richtig. Unsicherheit bleibt trotzdem, denn oft müssen Mütter von Kindern mit Behinderung gegen ihr Bauchgefühl handeln. Gerade und bewußt dagegen, damit ganz im Sinne und zum Wohle des Kindes etwas gutes entstehen kann. Es bleibt also ein Dilemma.
Dieser Beitrag wurde erstellt von: Dada