Ziele im Fokus
Jahresbericht 2023
Einleitung
Vorworte
Innehalten
Die Lebenshilfe Frankfurt hat im Jahr 2023 einige Veränderungswellen durchschifft. Gravierende Veränderungen gab es bei den gesetzlichen Grundlagen der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz. Die Umsetzung der neuen hessischen Rahmenverträge war und ist eine Herausforderung – gleichermaßen für die Klient*innen wie für die Angehörigen und die Mitarbeitenden. Und auch der Wechsel im Vorstand hat 2023 in der Lebenshilfe Frankfurt einige Wellenbewegungen ausgelöst. Spürbar war 2023: Veränderungen brauchen einen klaren Kurs und Energie. Und sie brauchen viel Kommunikation und Verständnis. Sie sind manchmal eine Zumutung und gleichzeitig eröffnen sie neue Gestaltungsräume. Bevor wir auf das Jahr 2023 zurückblicken und über die aktuellen Entwicklungen berichten, wollen wir mit dem Präsidium des Aufsichtsrates und dem Vorstand innehalten.
Lieber Gert Spennemann, an allererster Stelle wollen wir Ihnen von Herzen danken! Sie haben sich zwölf Jahre ehrenamtlich im Aufsichtsrat engagiert. Neun Jahre haben Sie sich als Vorsitzender des Aufsichtsrates für die Lebenshilfe Frankfurt eingesetzt, darüber hinaus auf Landesebene und auf Bundesebene der Lebenshilfe gewirkt. Das war ein „Full-time-job“. Sie haben die Ausrichtung und Entwicklung der Lebenshilfe Frankfurt immens geprägt. Jetzt geben Sie den Staffelstab weiter. Was möchten Sie gern weitergeben?
Gert Spennemann: Die Lebenshilfe befindet sich im Umbruch, nicht nur in Frankfurt, sondern bundesweit. Einen Grund dafür haben Sie angesprochen: Das Bundesteilhabegesetz. Gut gemeint, aber – sagen wir mal – problematisch in der Umsetzung, weil mit einem immensen Aufwand für Klienten, Angehörige und Mitarbeiter sowie großen Herausforderungen für das Controlling des Vereins verbunden. Das bedeutet für uns: Wir müssen den Spagat bewältigen, einerseits unseren Charakter und unser Alleinstellungsmerkmal als Angehörigenverein zu bewahren, andererseits aber den Anforderungen gerecht zu werden, denen wir als mittelständisches Unternehmen mit 500 Beschäftigten und 1.200 Kunden ausgesetzt sind. Für mich heißt das: Die kaufmännische Kompetenz zu stärken, ohne dabei die „Bodenhaftung“ zu den Mitgliedern zu verlieren. Um das zu schaffen, führt meines Erachtens kein Weg daran vorbei, das notwendige Know-how zu bündeln und verstärkt Kooperationen zwischen den örtlichen Lebenshilfen anzustreben, wie wir es bereits mit unseren Nachbarn in Main-Taunus und der Wetterau begonnen haben.
Lieber Jens Pössel, Sie sind über das Projekt WIR zur Lebenshilfe Frankfurt gekommen und engagieren sich seit 2021 im Aufsichtsrat - seit August als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender. Was treibt Sie an? Und was waren die Schwerpunktthemen der Aufsichtsratsarbeit im Jahre 2023?
Jens Pössel: Was mich antreibt ist die Forderung, dass die UN-Behindertenrechtskonvention endlich konsequent umgesetzt wird. Sie ist geltendes Recht! Es wurde schon einiges erreicht, aber zu wenig. Deutschland ist 15 Jahre nach dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 immer noch weit von einer ausreichenden Umsetzung entfernt. Das belegen die Monitoring-Berichte des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Das fängt bei fehlenden Kita-Plätzen für Kinder mit Behinderung an und setzt sich über die Schule bis ins Berufsleben fort. Von inklusivem Zugang zu Freizeitangeboten und fehlendem Wohnraum für Menschen mit Behinderung ganz zu schweigen.
Es gibt noch so viel zu tun. Ich erlebe jeden Tag so viele Menschen mit Kompetenz und guten Ideen, die am mangelnden Willen der Politik verzweifeln. Mein Wunsch an alle, die politisch den Rahmen für die Umsetzung von Inklusion vorgeben: Lassen sie uns Inklusionspolitik konsequent aus der Bedarfsperspektive mitgestalten. Mein Ziel ist es, dass Eltern und Kinder mit Beeinträchtigung mit einbezogen werden. Diese Perspektive möchte ich einbringen.
Die Rahmenbedingungen für soziale Dienstleister wie die Lebenshilfe Frankfurt sind schwieriger geworden. Ja. Und trotzdem: Gemeinsam mit vielen anderen - Eltern, Fachleuten, Interessenvertretern – bin ich davon überzeugt, dass es auch unter schwierigen Haushaltsbedingungen und mit Fachkräftemangel möglich ist, die Rahmenbedingungen für Inklusion endlich zu schaffen. Das treibt mich an. Inklusion braucht Haltung und Willen!
Im Aufsichtsrat haben wir uns 2023 intensiv mit der Umsetzung des BTHG und der damit verbundenen strukturellen Anpassung der Lebenshilfe Frankfurt und ihrer Angebote auseinandergesetzt. Darüber hinaus fehlen Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten ungemein. Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, eine gemeinsame Plattform für Angehörige – Eltern, Geschwister und Großeltern - zu haben und wichtiges Erfahrungswissen zu teilen. Sonst kämpft jeder für sich allein. Mein Ziel ist, dass wir in der Lebenshilfe Frankfurt Peer-to-Peer-Beratung und Angebote auf- und wieder ausbauen. Die Angebote der Lebenshilfe können auch noch ausgebaut werden – von der Stärkung des Ehrenamts, bspw. über inklusive Sport-, Musik- und Theaterangebote bis hin zur Erweiterung des Angebots, bspw. schulischer Art. Die Lebenshilfe hat noch viel Potential!
Liebe Frauke Ackfeld, seit 2018 geben Sie Eltern und Angehörigen eine Stimme im Aufsichtsrat und bringen ihr sozialpolitisches Knowhow ein. Was waren die Themen der Mitglieder in 2023? Und was möchten Sie den Mitgliedern mitgeben?
Frauke Ackfeld: Gerd Spennemann und Jens Pössel haben unsere dringenden Themen im Aufsichtsrat alle umfassend und sehr treffend benannt.
Nach Ratifizierung der UN-BRK im Jahr 2009 war die Freude der Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen riesig. Inklusion ist Menschenrecht! Von der/dem Bittsteller*in zur gleichberechtigten uneingeschränkten Teilhabe in allen Lebensbereichen! Wir haben in Deutschland in der logischen Folge viele gute Gesetze und Verordnungen geschaffen, um dieses Recht umzusetzen. An vielen Stellen ist der Gesetzgeber aber noch lange nicht da, wo er mit diesen Gesetzen hinwollte. Sei es bei der Umsetzung des Kinder- und Jugendförderungsgesetzes (KiFög), des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) oder auf hessischer Ebene beim Hessischen Schulgesetz (HSchG).
Ganz im Gegenteil erleben wir gerade nicht nur Stillstand bei diesen Bemühungen, sondern eher Zurückhaltung bei den verantwortlichen Behörden Inklusion zu finanzieren, Rückschritte in der Angebotsstruktur der Leistungserbringer in der Behindertenhilfe und Widerstände von Kitas und Schulen unsere Kinder mit Behinderung aufzunehmen und zu beschulen. Für Angehörige als rechtliche Vertreter*innen braucht es viel Kraft und Energie, geltendes Recht durchzusetzen. Im Schulterschluss mit der Lebenshilfe Frankfurt trägt sich diese Last leichter. Vom Einzelwohl zum Gemeinwohl - eines meiner Leitsätze. Wir brauchen Selbstvertreter*innen und engagierte Angehörige, um die Interessen der Menschen mit Behinderungen zu vertreten. Nicht ohne uns über uns!
Liebe Dominique Deneu, seit Januar 2024 sind Sie Vorständin. Bereits 2023 waren Sie im dreiköpfigen Geschäftsleitungsteam. Der Jahresbericht 2023 steht unter der Überschrift „Fokussieren“. Warum machen wir das? Was waren die Herausforderungen 2023?
Dominique Deneu: Fokussieren bedeutet, dass ich meine Aufmerksamkeit ganz bewusst auf bestimmte Ziele und Aufgaben lenke und mich ganz darauf konzentriere – mit aller Kraft, Energie und Leidenschaft. Fokussieren bedeutet auch, dass ich für eine gewisse Zeit andere Themen erst einmal ausblende und nicht versuche, alles gleichzeitig abzuarbeiten.
Die Lebenshilfe Frankfurt hat sich 2023 und 2024 vorgenommen, sich auf drei Ziele zu konzentrieren.Warum? Weil die letzten Jahre sehr bewegt waren. Es gab viele Umbrüche: Angefangen von der Corona-Pandemie über die Energiekrise. Auslöser für diese Fokussierung sind die Herausforderungen der vergangenen Jahre. Konkret die Corona-Pandemie sowie die Energiekrise aufgrund des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine. Und auch die Umstellungsprozesse im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes sind ein großer Brocken, der uns als Organisation herausfordert. Wir begrüßen den Paradigmenwechsel ausdrücklich, aber die bürokratischen Neuanforderungen sind immens. Paradigmenwechsel steht für eine große Veränderung. Es geht um die Art, wie Menschen denken. Oder wie sie die Welt sehen. Es bedeutet, von Grund auf neu zu denken. Nichtsdestotrotz: Wir wollen gestalten. Deshalb die Fokussierung. Wir wollen unsere Kraft und Energie bündeln. Damit verfolgen wir drei zentrale Ziele:
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Verlässliche Unterstützung für Nutzer*innen gestalten
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Wirtschaftliche Stabilität sichern
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Mitarbeitenden gute Rahmenbedingungen bieten
Anhand dieser drei Fokussetzungen wollen wir Ihnen in diesem Jahresbericht die Situation der Angebote und Projekte im Jahr 2023 vorstellen.
Mich hat sehr bewegt, wie der Betriebsrat in seinem Newsletter März 2024 die aktuelle Situation beschrieben hat. Deshalb möchte ich es hier zitieren: Alles was Neu ist, verursacht nicht immer nur Freude und Frohsinn, sondern auch Unsicherheit und Zweifel, ob man all dem gewachsen ist. Neu zu beginnen, ist oft begleitet von einem bunten Spektrum an Gefühlen. Es braucht Mut und Kraft. Ebenfalls Motivation und Zusammenhalt.“
Absehbar ist, dass uns Veränderungsprozesse auch die kommenden Jahre beschäftigen werden. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir gemeinsam als Lebenshilfe Frankfurt die nötige Kraft entwickeln und halten können, um die anstehenden Herausforderungen anzunehmen und zu meistern.